Die Klangschönheit der Klarinetten – Teil 4

Das Klarinettenregister als Hauptklangfarbe im sinfonischen Blasorchester 
TEIL 4

Mannigfaltige Aspekte über die vielseitige Verwendung des Klarinettenregisters, inspiriert durch das Online-Seminar mit Prof. Alex Schillings in der BDB-Online-Akademie. Zusammengestellt von Stefan Kollmann.

Im Grunde genommen geht es uns Allen um das Gleiche: Wir wollen, dass unsere Blasorchester schön klingen. Deshalb sind viele Dirigenten und Musiker eigentlich permanent auf der Suche nach dem schönen Klang und damit verbunden nach geeigneter Literatur. Wie bereits im dritten Teil dieser Artikelserie beschrieben (Teil 1–3 siehe blasmusik Nr. 2, 3, 4, 2022), könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich durch die Globalisierung in der europäischen Blasmusikszene in Bezug auf die Instrumentierung eine gewisse Vereinheitlichung des Klangs etabliert. Das wäre fatal, geht dabei doch auch der für die jeweiligen Länder typische Klang und die Klangvielfalt verloren. Versuchen wir doch vielmehr durch eine kluge Werkauswahl die in der Überschrift erwähnte Hauptklangfarbe der Klarinetten zu unterstützen und die dem Genre „Bläsermusik“ ureigen anhaftende Klangvielfalt zu erhalten und auszubauen.

Im letzten Teil dieses Artikels über „Die Klangschönheit der Klarinetten“ möchte ich deshalb mit weiteren Literaturbeispielen die Wichtigkeit und Bedeutung einer sinnvollen Instrumentation des Klarinettenregisters betonen. Auch dieser Beitrag soll sich mit den Optionen einer optimalen Notation und dem bestmöglichen Einsatz der Klarinetten im sinfonischen Blasorchester beschäftigen, gerade weil den Klarinetten vom „Chalumeau-Register“ über das „Clarin-Register“ bis zum „Altissimo-“ oder „Diskant-Register“ ein großartiger Tonumfang und besonders im Satz ein äußerst tragfähiger Klang zur Verfügung steht. Aus dieser Überlegung heraus finden sich nachfolgend weitere zur Anregung dienende Beispiele aus der konzertanten Blasorchesterliteratur, die den wohlüberlegten Einsatz der Klangvielfalt des Klarinettenregisters aufzeigen.

Second Suite in F – Gustav Holst

Die vor 111 Jahren für „Military Band“ komponierte „Second Suite in F“ (1911) zählt zu den wichtigsten Originalwerken für Blasorchester. Im Gegensatz zur dreisätzigen ersten Suite in Es-Dur besteht die zweite Suite aus vier Sätzen und enthält zahlreiche Melodien aus der englischen „Folk-Music“, alte, traditionelle Lieder (wie z. B. Greensleeves etc.), die hier geschmackvoll und effektreich verarbeitet wurden.

Bereits dieser kleine Ausschnitt aus dem 1. Satz „March“ zeigt, wie Gustav Holst hier instrumentiert: Die Solo-Klarinette und die 1–3. Klarinetten spielen eher im „Clarin-Register“, sogar die Alt- und Bassklarinette sind höher gesetzt als sonst üblich. Dadurch entsteht hier aber eine ganz besonders transparente, vielleicht auch wegen der Tonhöhe pikante Klangfarbe. Lediglich die Es-Klarinette und die Oboen spielen in bequemer Lage, der Rest des hohen Holzes, i. e. die Flöten und das hohe Klarinettenregister, sorgen hier für den eher schärferen Klang. Man muss an dieser Stelle der Komposition diesen brillanten, diskantbetonten Klang unbedingt vor anderen Alternativen bevorzugen und ihn auch entstehen lassen, da dies typisch ist für den Klang der englischen Militärorchester zu der Entstehungszeit dieser Komposition. Das hohe Klarinettenregister, verstärkt durch Piccolo-Flöte, Oboen und die Es-Klarinette (scharfes Holz), steht im Vordergrund und bildet hier die Hauptklangfarbe. Aber auch in dieser sensiblen Klangkombination gilt es, auf die Balance zu achten und eventuell bei den Achtelbewegungen die Solo- und 1. und 2. Klarinette sowie die Flöten in der Dynamik etwas zurückzunehmen bzw. in der Aufwärtsbewegung eher ein kleines „decrescendo“ anzusteuern. Darüber hinaus könnte man zum besseren Klangausgleich auch die Artikulation punktuell ändern: Die Doppelrohrinstrumente (Oboen und Fagotte) und Piccoloflöte bleiben beim notierten „staccato“, die Einfachblattinstrumente (Klarinetten und Saxophone) und große Flöte spielen ein kleines „tenuto“ oder „portato“, wobei die große Flöte dadurch einen Ausgleich oder eine besondere Mischartikulation zu den Doppelrohrinstrumenten entwickeln kann. Diese besonderen Artikulationsvarianten sind für die hier benötigten speziellen Klangfarben enorm wichtig.

Genau mit diesen Klang- und Artikulationsdetails müssen Dirigent:innen sich unentwegt beschäftigen, um für die jeweilige Stelle bestmögliche Klangergebnisse zu kreieren. In dieser Komposition geht es natürlich um den sog. „englischen bzw. britischen Klang“: Blechbläsergruppe (Brassband) plus kleine Gruppe mit sog. scharfem Holz als Kontrast zur Blechbläser-Klangfarbe. Der Rest der Klangidee ist ganz einfach Wohlklang. Ein spanischer Klang bzw. eine spanische Komposition müsste sicherlich ganz anders klingen, eher tiefer und viel weicher instrumentiert. Durch Kompositionen wie die „Second Suite in F“ von Gustav Holst vermeiden wir aber den im 3. Teil dieser Serie (blasmusik 4, April 2022) erwähnten – wahrscheinlich auch gefährlichen – Einheitsklang. Ziel ist immer die farbenreiche Klangvielfalt des Klarinettenregisters in der Literatur für konzertante oder sinfonische Blasorchster. Und es gibt diese Literatur, z. B.:

Suite Nr.1 – Oliver Waespi

Verschiedene Werke des schweizer Komponisten Oliver Waespi könnten hierfür ein gutes Beispiel sein: Die „Three Pictures for Band“ oder „Tryptich“, (beide Grad 3) oder aber auch die bereits 1997 für Grad 5 komponierte „Suite Nr. 1“.

In dieser Komposition ist gleich zu Beginn ein furioses Klarinettenregister notiert (manchmal sogar – zumindest für die 2. und 3. Klarinettenstimme – in etwas ungünstiger Lage), was aber dennoch eine wunderbare Gelegenheit bietet, die Klangschönheit der Klarinetten ideal hörbar zu machen, besonders wenn die Lagen, von der „Clarin-Lage“ abwärts in die „Chalumeau-Lage“ und wieder zurück, gewechselt werden. Diese bemerkenswerte Anfangspassage beeindruckt dadurch, dass zunächst die Klarinetten nur von einer Tuba, dem Kontrabass und nach vier Takten von den Flöten und einem Solo-Horn unterstützt werden. Nach und nach kommen andere Instrumente wie Bassklarinette, Tenorsaxophon, Trompeten mit Dämpfer, Triangel und jeweils eine Oboe und ein Fagott hinzu und bilden zusammen eine fulminante Anfangssektion. Verschiedene Aufnahmen, u. a. die der „Banda Sinfónica de Portuguesa“ (CD „Hamlet“ Masterpieces for Band, Vol. 22, Molenaar) wären hier ganz besonders zu empfehlen, da sie ein außergewöhnliches Beispiel für einen uniformen, absolut ausgeglichenen, indirekten Klang der Klarinetten darstellen. Alle beteiligten Klarinetten artikulieren gleich, nämlich mit sehr breiter Zunge (mit dem breitesten Teil der Zunge – nicht der Spitze), sehr leicht, ohne zu forcieren; der Klang ist offen und groß, im Lagenwechsel nach unten wird der Klang sogar noch voller. In diesem Werk von Oliver Waespi wird das Klarinettenregister optimal eingesetzt und präsentiert. Solche Kompositionen bieten hervorragende Gelegenheiten, den Klarinettenklang zu optimieren, ins rechte Licht zu rücken und bei den Ausführungen große Freude zu empfinden. Darüber hinaus hat man mit solchen Werken auch die Möglichkeit, besonders den Klang und die differenzierten Artikulationen bei den tiefen Holzblasinstrumenten wie Fagotte, Bassklarinetten etc. zu trainieren. Ein Beispiel dafür ist, wenn die Fagotte mit ihrer Artikulation sich in den Klang der Bassklarinette integrieren und diesen im Idealfall noch verschönern und verstärken.

Die Quintessenz aus dieser Überlegung: Die direkte Artikulation der Doppelrohrinstrumente kann sehr gut dazu benutzt werden, den Klang und die Artikulation der Einfachblattinstrumente wie Klarinetten und Saxophone positiv zu beeinflussen bzw. zu vermischen. Hierbei gibt es unzählige Möglichkeiten für Mischklänge und Mischartikulationen.

Ein weiteres Beispiel für eine sehr gelungene Komposition ist das von Percy Grainger – bereits 1907 in einer ersten Version für Streichquartett – komponierte Werk „Molly on the Shore“, das später auch für Streichensemble und für komplettes Sinfonieorchester herausgegeben wurde. Der u. a. in den USA berühmte deutsche Dirigent und Komponist Richard Strauss hat das knapp vierminütige kurze Werk (195 Takte) in Berlin aufgeführt.

Percy Grainger, in Australien geboren, studierte ab 1885 Klavier in Frankfurt, unternahm ab 1901 verschiedene Reisen in Europa und zog 1914 in die USA, wo er Orchestermitglied in der U.S. Army Band wurde. Er sammelte viele Volkslieder aus verschiedenen Ländern, die er später in unterschiedlichsten Bearbeitungen, viele davon als Blasorchesterausgaben, veröffentlichte. „Molly on the Shore“ wurde 1921 als ein „Irish Reel“, ein schneller Rundtanz, für „Military Band“ publiziert.

Molly on the Shore – Percy Grainger

Der Anfang: Fagotte, 2. Klarinette und Bassklarinette spielen „pizzicato“ wie bei Streichern, dann leicht – in Achtelund Triolenfiguren – dahinblubbernde Klarinetten (Solo Klarinetten + Altklarinetten). Nach 18 Takten übernehmen die Fagotte, die Bassklarinette und der Kontrabass die Führung – alles in quirligen Achtel- und Triolenläufen. Nach und nach steigen weitere Instrumente wie das Sopransaxophon (eines der Lieblingsinstrumente von Percy Grainger), die Es-Klarinette, Flöten, Oboen, Kornette etc. in diesen wirbelnden Reigen mit ein. Die Tuttipassagen werden immer wieder von kammermusikalischen Stellen unterbrochen, was diese Komposition so spannend und fesselnd macht. Gegen Ende, ab Takt 155, steigert Grainger diese Spannung noch, indem er u. a. chromatische Achteltriolenfiguren zunächst in die 1. und 3. Klarinettenstimme, später in verschiedene Holzbläserstimmen einbaut. Ein grandioser Effekt, der zeigt, wie man mit kreativen Kompositionsideen und geschickter Instrumentation die Vielfalt konzertanter Bläsermusik elegant darstellen kann. Die letzten 32 Takte, ab Takt 163, sind als kammermusikalischer Geniestreich mit einem langgezogenen Decrescendo bis „pppp“ zu verstehen, bevor das „Tutti-Orchester“ mit einem fulminanten As-Dur-Akkord in „ffff“ das Werk kraftvoll und mit maximalem Effekt beendet. Viele Kontraste, clevere Instrumentationen und kompositorische Raffinesse geben diesem besonderen Werk eine eigene Signatur oder DNA und es befindet sich somit weit weg von dem bereits erwähnten Einheitsklang. Dieses besondere Musikstück zu interpretieren, ist eine extrem lohnende Herausforderung – nicht nur für das Klarinettenregister. Solche Literatur zu spielen oder zumindest von guten Orchestern zu hören, ist besonders empfehlenswert, da man in solchen Werken die in dieser Artikelserie häufig beschriebenen Klangfähigkeiten des Klarinettenregisters – und auch der anderen Register – hervorragend trainieren und optimieren kann.

Die belgische Gidsen – ein besonderes Klangbeispiel

Ein sehr gutes Beispiel für ein solches besonderes Blasorchester-Klangerlebnis ist die bereits mehrfach erwähnte Spielweise der „belgischen Gidsen“. Einer der Gründe, warum dieses Blasorchester einen außergewöhnlichen Klang entwickeln kann, ist u. a. die Tatsache, dass sie auch heute noch viele Transkriptionen spielen, darunter auch Bearbeitungen von Igor Strawinsky oder Maurice Ravel. Letzterer soll sogar die bearbeitete Partitur zu „La Valse“ an den damaligen Dirigenten des Orchesters, André Prevost, mit einer persönlichen Widmung versehen haben. Seit der Gründung im Jahre 1832 hat das Orchester mit seinen Verantwortlichen immer versucht, einen besonderen, großartigen und einzigartigen Klang zu kreieren. So haben die „Gidsen“ beispielsweise bei den klassischen Transkriptionen immer eine Holzbläsergruppe (normalerweise zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte), die auch in einem Sinfonieorchester besetzt wäre, mittig, d. h. an den Plätzen positioniert, an denen sie im Sinfonieorchester sitzen würden. Alle anderen Holzbläser, bspw. die chorisch besetzten Klarinetten, sind wie üblich vorne links platziert. Hinzu kommt die Tatsache, dass das Orchester immer wieder bearbeitete Werke aus der Barockepoche einstudiert hat, um die sog. „Einzelblatt-Register“ (Klarinette, Saxophon) in ihrer Artikulation zu vereinheitlichen.

Ein sehr beeindruckendes Beispiel ist die Aufnahme der Transkription von „Toccata und Fuge in d-Moll“ von Johann Sebastian Bach.

Besonders die Wechsel des Klarinettenregisters aus dem „Chalumeau-Register“ hinauf zu dem „Clarin-Register“ bis hin zur „Diskant-Lage“ sind in dieser, in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Klangkomposition extrem überzeugend und ergreifend. Diese unbeschreiblich präzise, absolut gleiche Artikulation und Spielweise in den verschiedensten Registern und Lagen, die eine ideale Klangmischung und auch spezielle Mischklänge ermöglicht, ist mitunter betörend und in jedem Fall ein ideales Beispiel für eine extravagante, üppige Klangkultur.

Alfred Reed – Klangschöpfer für Blasorchester

Ein Komponist, der seit den 1940er-Jahren geholfen hat, gute Literatur für Blasorchester zu publizieren und als einer der bedeutendsten Komponisten für die Entwicklung sinfonischer Bläsermusik gilt, ist Alfred Reed (1921–2005). Er hat wie kaum ein anderer Komponist die Klangmöglichkeiten gut besetzter, sinfonischer Blasorchester wegweisend und extrem kreativ umgesetzt. Angefangen mit der „Russian Christmas Music“, 1944 noch als Alfred Friedman komponiert (ab 1955 offizielle Änderung in Alfred Reed), bis hin zu dem fantastisch instrumentierten Konzertmarsch „Victory!“ 2004 für eine japanische High-School Band, komponierte Alfred Reed mehr als 200 Werke, von denen viele heute als Standardwerke für sinfonisches Blasorchester gelten.In all diesen Werken ist eines immer festzustellen: Alfred Reed wusste, wie man für ein ausgewogenes Holzregister, wie man für das Klarinettenregister als Hauptklangfarbe komponieren und instrumentieren muss. Man erkennt in seiner Musik immer wieder das Verständnis und Wissen um „scharfe und weiche Klangfarben“ sowohl beim Holz- als auch beim Blechregister. Seine Leidenschaft für klug ausgewählte, feinstrukturierte Klangmischungen und das unentwegte Bemühen, die bestmöglichen Klangkombinationen für das jeweilige Werk zu gestalten, ist leicht zu erkennen. Er versteht es darüber hinaus äußerst geschickt und geschmackvoll, die fast unendlichen Kombinationen der Schlaginstrumente, mitunter auch eine Harfe, in seinen Werken – auch den Märschen – effektiv einzusetzen. Seine Musik hat ein eigenes Profil, einen besonderen Klang, und ist geprägt von intelligenter Instrumentation und wohlüberlegtem Einsatz der üppigen Klangfarbenmöglichkeiten heutiger Blasorchester.

Arbeiten Sie immer wieder an den Klangfarben ihres Blasorchesters, indem Sie gute Literatur spielen: Werke, die fachmännisch instrumentiert sind und die auch das Klarinettenregister als Hauptklangfarbe berücksichtigen. Die Wahl der Literatur ist ausschlaggebend für die Klangentwicklung im Klarinettenregister. Am besten wählen Sie Literatur aus, bei der das Klarinettenregister zu 100 % ein gutes, klangstarkes Register sein kann. Sie haben dann durch die Vielzahl der anderen Instrumente zusätzlich die Möglichkeit, weitere unterschiedliche und abwechslungsreiche Klangfarben zu kreieren, miteinander zu verbinden und zusammenzustellen. Empfehlungen hierfür habe ich in Teil 1–3 in dieser Artikelserie angeführt, weitere werden unter anderen Themenbereichen folgen.

Wählen Sie aus, seien Sie kritisch, entwickeln Sie einen eigenen Geschmack, aber bedenken Sie dabei immer die „Klangschönheit der Klarinetten“.

 

Das Online-Seminar „Das Klarinettenregister in der Krise“ mit Prof. Alex Schillings ist abrufbar auf Youtube unter: https://www.youtube.com/watch?v=BrSO3Y1Z7Rk

 

blasmusik Ausgabe 05-2022 | Autor: Stefan Kollmann
Zum digitalen Kiosk geht es hier: epaper.blasmusix.de

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