Ein Beitrag zum sozialen Kapital der Gesellschaft

Die Corona-Pandemie war für die Amateurmusik eine existenzielle Bedrohung. Nicht nur den Musizierenden in den Orchestern und Ensembles wurde in der Krise der Wert ihres Hobbys erst bewusst. Auch Politik und Wissenschaft nahmen das Amateurmusizieren in den Blick. Dass es neben der persönlichen Bedeutung für den einzelnen Musizierenden auch gesellschaftliche Relevanz hat, das legt die Studie „Gemeinsames Musizieren gesellschaftlich unverzichtbar“ von Natalie Röse nah. Über die Ergebnisse spricht Natalie Röse im Interview mit unserer Redakteurin Martina Faller. 

blasmusik: Sie haben über 1.000 Personen zu verschiedenen Aspekten des Amateurmusizierens befragt und sind – so auch der Titel Ihrer Studie – zu dem Schluss gekommen: „Amateurmusizieren ist gesellschaftlich unverzichtbar.“ Haben Verbote und Verzicht den Blick für die Bedeutung des Amateurmusizierens erst geschärft?

Röse: Das lässt sich nur mutmaßen. Aus anderen Studien geht hervor, dass das Amateurmusizieren zum Alltag der Beteiligten gehört, also ein fester Bestandteil des Lebens ist. Diese Selbstverständlichkeit des gemeinsamen Musizierens im Ensemble führt also gegebenenfalls dazu, dass die Bedeutung nicht immer reflektiert wird. In jedem Fall ist also der Zeitpunkt der Befragung der Akteur:innen der Amateurmusik (während der Corona-Pandemie) extrem spannend. Bei allen negativen Folgen, die die Pandemie für die Amateurmusik hatte und hat, ist es einmalig, dass alle Beteiligten in eine Zwangspause gehen mussten und nicht mehr selbstbestimmt ihrem Hobby nachgehen konnten.

blasmusik: Sie arbeiten in Ihrer Studie die gesellschaftliche Relevanz des Amateurmusizierens heraus. Dann sind es also nicht rein egoistische Gründe, wie etwa die Liebe zur Musik und die persönliche Freude am Musizieren, die Menschen dazu bewegen, ein Instrument zu lernen und im Orchester zu spielen?

Röse: Die Einstiegsgründe und die Gründe für eine langfristige Teilnahme können sich unterscheiden. Für viele steht beim Ensemblemusizieren natürlich die Musik im Vordergrund. Andere Aspekte passieren für sie eher nebenbei, wie die Entstehung von Gemeinschaft. Aus meiner Sicht können die sozialen, gesellschaftlichen Aspekte des Ensemblemusizierens nicht einfach von den musikalischen getrennt werden. So findet zum Beispiel ganz viel Interaktion und auch Kommunikation beim Musizieren statt, was zum Beispiel positiv auf das Gemeinschaftsgefühl wirken kann. Das kann dann bei der Entscheidung, weiterhin in einem Ensemble zu musizieren, entscheidend sein. Das Schöne an diesem Hobby ist also, dass beides, gesellschaftliche Relevanz und rein egoistische Gründe der Teilnahme, hier Hand in Hand gehen können – teilweise auch ohne dass es den einzelnen Akteur:innen bewusst ist.

blasmusik: Welches waren denn die am häufigsten genannten Gründe, um mit dem Musizieren anzufangen?

Röse: Wir konnten sechs verschiedene Arten von Einstiegsgründen identifizieren: musikalische Gründe, soziale Gründe, lernorientierte Gründe sowie selbstorientierte Gründe. Bei Letzteren geht es um persönliche Weiterentwicklung. Außerdem spielen absichtslose Gründe, bei denen die Teilnahme am Ensemble eher zufällig passiert und pragmatische Gründe, bei denen zum Beispiel die kurze Anfahrt entscheidend ist, eine Rolle.

blasmusik: Neben den Einstiegsgründen haben sie auch nach den Bedürfnissen gefragt, die Menschen mit dem Musizieren in einem Orchester verbinden? Welche sind das?

Röse: Die Bedürfnisse können in acht Dimensionen zusammengefasst werden: Das sind Partizipation, z. B. mitbestimmen können, Gemeinschaft, z. B. Zusammenhalt und Fürsorge, Musik erleben, z. B. musikalisches Niveau, Ausgleich, z. B. dort entspannen zu können, Ernsthaftigkeit, z. B. klare Ziele zu verfolgen, Emotionen, z. B. Gefühle ausdrücken zu können, Wohlfühlen, z. B. nicht unter Druck zu geraten, gemeinsam Lernen, z. B. Austausch über Musik.

blasmusik: Bleiben diese Bedürfnisse gleich oder verschieben sich die Prioritäten mit der Dauer oder dem steigenden Alter der Musizierenden?

Röse: Bei unserer Teilnehmergruppe werden die Dimensionen Musik erleben, Emotionen, Wohlfühlen und gemeinsam Lernen mit steigendem Alter wichtiger. Auch andere Studien geben Hinweise darauf, dass ältere Musizierende davon profitieren, im Ensemble Emotionen regulieren, Stress abbauen und Leistung erbringen zu können. Die Ernsthaftigkeit wird mit steigendem Alter ebenfalls wichtiger. Gegebenenfalls ist dieser Aspekt mit weniger Verpflichtungen und Konstanz im Leben leichter umzusetzen als bei jungen Menschen, die noch im Studium stecken, eine Familie gegründet oder gerade einen neuen Beruf begonnen haben. Interessant ist, dass mit steigendem Alter die Dimension Gemeinschaft unwichtiger wird. Hier kommt es aber darauf an, was Gemeinschaft für den Einzelnen bedeutet: Freundschaften schließen und gemeinsame Unternehmungen sind dabei für Jüngere gegebenenfalls von höherer Bedeutung.

blasmusik: Konnten Sie im Hinblick auf die Beweggründe und Bedürfnisse Unterschiede zwischen Stadt und Land erkennen?

Röse: Ein auffälliger Unterschied in unserer Teilnehmergruppe ist die Bedeutung von sozialen und musikalischen Aspekten. Im städtischen Raum sind Aspekte wie Qualität und Repertoire des Ensembles als Einstiegsgrund wichtiger als im ländlichen Raum. Im ländlichen Raum sind wiederum soziale Gründe wie die Gemeinschaft oder außermusikalische Aktivitäten wichtiger. Das zeigt sich auch bei den Bedürfnissen: Auf dem Land sind Partizipation, Gemeinschaft, Wohlfühlen und Ausgleich wichtiger bei der Mitwirkung in einem Ensemble im Vergleich zur Stadt. Dort ist das Erleben von Musik wichtiger.

blasmusik: Macht auch das musikalische Niveau der Orchester einen Unterschied?

Röse: In unserer Teilnehmergruppe zeigte sich: Je niedriger das Niveau, umso wichtiger werden die Dimensionen Ausgleich und Wohlfühlen. Partizipation, Musik erleben und Ernsthaftigkeit gewinnen mit steigendem musikalischem Niveau an Bedeutung. Hier zeigt sich, dass es mit niedrigerem Niveau wichtig ist, eine angenehme Atmosphäre im Ensemble zu erfahren und das Partizipation gegebenenfalls besonders für diejenigen von Interesse ist, die sich weniger auf musikalische Aspekte der Ensemblearbeit fokussieren müssen.

blasmusik: Die Einstiegsgründe und Bedürfnisse sind – wie Sie in Ihrer Studie zeigen konnten – also sehr vielfältig. Wie würden Sie sie allgemein bewerten? Welchen Status hat das Musizieren für die Teilnehmenden?

Röse: Die gezeigte Vielfalt zeigt, dass jede:r Teilnehmende also die Möglichkeit hat, im Ensemblemusizieren seine persönliche Rolle zu finden und seine Bedürfnisse zu stillen. Kurz gesagt: Für jeden ist etwas dabei.

blasmusik: Und was können wir aus der Erkenntnis der vielfältigen Bedürfnisse für die Praxis ableiten?

Röse: Gleichzeitig, und das ist möglicherweise sehr relevant, wenn gesellschaftliche Aspekte ins Spiel kommen, zeigt diese Vielfalt an Bedürfnissen auch die Vielfalt an Menschen, die dort ihren Platz finden. Das Ensemble ist offensichtlich ein Ort, an dem Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen zusammenkommen, die also Kompromisse finden und mit Unterschiedlichkeit umgehen müssen. Dieser Diskurs kann in der Praxis gefördert werden.

blasmusik: Die Ergebnisse Ihre Studie legen nahe, dass sich im Amateurmusizieren in Deutschland Aspekte des amerikanischen Konzepts der „Community Music“ wiederfinden. Können Sie unseren Lesern das Konzept der „Conmunity Music“ bitte kurz erläutern und die Parallelen zum Amateurmusizieren in Deutschland aufzeigen?

Röse: Bei der „Community Music“ geht es um aktives Musizieren in der Gruppe mit sozialem, gesellschaftlichem und musikalisch-ästhetischem Anspruch. Aspekte, die hier eine Rolle spielen, sind unter anderem die Gleichwertigkeit von musikalischem und sozialem Prozess, Gleichberechtigung, Selbstbestimmtheit und Gemeinschaft. Die ermittelten Bedürfnis-Dimensionen zeigen viele Überschneidungen zwischen Amateurmusik und „Community Music“. Zusammengefasst finden sich also sowohl soziale, gesellschaftliche als auch musikalische Aspekte, die den Mitwirkenden in Ensembles wichtig sind.

blasmusik: Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass die Amateurmusik zum „Sozialen Kapital“ unserer Gesellschaft gehört? Was verstehen Sie unter „Sozialem Kapital“?

Röse: In Bezug auf das Ensemblemusizieren spielen die Aspekte Vertrauen, Partizipation, Interaktion, bürgerschaftliches und gesellschaftliches Engagement, Freundschaft, Kooperation, Verpflichtung und Gegenseitigkeit, geteilte Normen und Werte sowie Lernen und Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Diese können zum „Sozialen Kapital“ einer Gesellschaft, also zum Zusammenhalt und zur Fähigkeit, Konflikte und Probleme zu lösen, beitragen.

blasmusik: Vielen ehrenamtlich Engagierten in der Amateurmusik ist die gesellschaftliche Relevanz des Amateurmusizierens längst bewusst. Für sie ist das nichts Neues. Wie können Sie die Bestätigung durch die Studie für sich nutzen? Was können die Vereine und Verbände daraus entwickeln?

Röse: In Deutschland gibt es nur sehr wenig Forschung zur Amateurmusikszene. Auch wenn sich vieles als Bestätigung des informellen Wissens liest, schärft es für die Akteur:innen gegebenenfalls an der einen oder anderen Stelle das Bewusstsein: Wer sitzt in meinem Ensemble? Wie heterogen ist es? Weiß ich um die Bedürfnisse dieser einzelnen Personen?

blasmusik: Dann steht für Sie also fest, was Sie im Titel Ihrer Studie postulieren: Gemeinsames Musizieren ist gesellschaftlich unverzichtbar?

Röse: Ja, schon allein, weil es Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen zusammenführt. Menschen verlassen für mindestens einen Abend in der Woche ihre „Bubble“ und haben die Chance, andere Perspektiven einzunehmen und aktiv Kompromisse zu finden. Außerdem spielt es für den Einzelnen eine ganz wichtige Rolle, einen Ort zu haben, an dem Selbstverwirklichung, Partizipation und Zugehörigkeit erlebt werden kann.

 

blasmusik Ausgabe 04-2023 | Autor: Martina Faller

Zum digitalen Kiosk geht es hier: epaper.blasmusix.de

 

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Ich habe die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis genommen.